Der Flügelschlag eines Schmetterlings kannn einen Tornado auslösen © Besnik Spahijaj
„Denn erstens kommt es anders …“
Chaos in den Naturwissenschaften
Hesiod, es war wieder einmal Hesiod. Der antike griechische Dichter hat uns im siebten vorchristlichen Jahrhundert das Chaos beschert. In seiner „Theogonie“. Als Begriff und als Konzept vom Beginn. Am Anfang war für ihn nicht das Wort, am Anfang war, so sein durchaus nachvollziehbarer Gedanke, erst einmal … nichts. Die Leere. Es hat rund 2400 Jahre gedauert, bis aus dem Chaos in der Kosmologie des Hesiod unser jetziges umgangssprachliches Konzept der Unordnung, des Gewirrs, des Durcheinanders geworden ist. Das Chaos als perfekter Gegenspieler der Ordnung eben. Und alles andere als Nichts. Eigentlich eher ein „zu viel“.
Der in Nancy geborene Mathematiker, Physiker und Astronom Henry Poincaré brachte kurz vor der vorletzten Jahrhundertwende Gedanken zu Papier, die für die heutige Chaostheorie oder Chaosforschung grundlegend sind. Poincaré beteiligte sich 1899 an einem Wettbewerb, den der damalige schwedische König Oscar II. ausgelobt hatte. Gewinnen sollte die Einreichung, die schlüssig die Stabilität unseres Sonnensystems nachweisen konnte. Den Preis davongetragen hat Poincaré dann mit dem exakten Gegenteil der gestellten Aufgabe. In seinen Ausführungen legte er dar, dass der gewünschte Beweis nicht zu erbringen sei. Dabei formulierte er die für die Chaosforschung noch heute goldenen Worte: „Es kann vorkommen, dass kleine Abweichungen in den Anfangsbedingungen schließlich große Unterschiede in den Phänomenen erzeugen … Vorhersagen werden unmöglich und wir haben ein zufälliges Ergebnis.“
Der Volksmund spricht heute noch von „kleinen Ursachen mit großer Wirkung“ und weiß auch um die Problematik von Vorhersagen, „insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen“.
Dennoch war Poincarés Erkenntnis über die potentielle Unvorhersagbarkeit physikalischer Abläufe ganz und gar nicht trivial, sondern für die Naturwissenschaften eine stille Revolution, vergleichbar mit den von Siegmund Freund definierten so genannten drei Kränkungen der Menschheit. Weder ist die Erde Mittelpunkt des Kosmos (Keppler) noch steht der Mensch außerhalb oder gar über der Natur (Darwin) und psychologisch betrachtet ist er auch nur sehr bedingt Herr im eigenen Hause (Das „Es“ der Psychoanalyse). Die Chaostheorie besagt nun nicht mehr und nicht weniger, als dass auch unser mechanistisches Weltbild, kurz gesagt der Glaube an die Messbarkeit und Vorhersagbarkeit aller physikalischer Prozesse, an die Verlässlichkeit von Ursache und Wirkung ebenfalls auf Sand gebaut ist.
Und dieser Sand wurde ab Mitte des 20. Jahrhunderts gründlich gesiebt. Die Wiege der modernen Chaostheorie steht in Cambridge, Massachusetts. Am berühmten MIT, dem Massachusetts Institute of Technology. Dort arbeitete Edward Lorenz von 1962 bis 1987 als Professor für Meteorologie. Sein Spezialgebiet waren mathematische Modelle zur Wettervorhersage.
Ab jetzt wird die Geschichte der Chaostheorie, vorsichtig formuliert, ziemlich kompliziert. Natürlich hat der Schmetterling seinen großen Auftritt, aber leider tauchen nun auch komplizierte Formeln und Gleichungen auf, Gesetze der Thermodynamik stehen im Raum, seltsame Attraktoren (die heißen wirklich so, also seltsam!) tauchen auf, Fraktale und noch viele andere für die Chaostheorie wichtige Fachbegriffe und Theorien gewinnen die Oberhand.
Aber ganz einfach gesagt ging Lorenz bei seinen frühen Modellen durchaus schon davon aus (und das war die gängige Auffassung), dass Ausgangssituation und Endpunkt einer Wetterentwicklung in einem gewissen instabilen, also nicht konstanten, Mathematiker sagen dazu auch nonlinearen Verhältnis zueinander stehen. Also dass bei der gesetzmäßigen Beschreibung eines Prozesses leichte Veränderungen der Ausgangssituation auch zu leichten Veränderungen im Resultat führen. Noch einfacher formuliert: Man glaubte, dass kleine Ursachen auch nur eine kleine Wirkung hätten.
Und diese Veränderungen erschienen entweder vernachlässigbar oder mathematisch kontrollierbar zu sein. Als Meteorologe sah sich Lorenz jedoch mit der noch heute aktuellen Frage konfrontiert, warum die Vorhersage des Wettergeschehens so überaus kompliziert und fehleranfällig ist. Er stellte sich diesem Problem und kam zu der damals überraschenden Erkenntnis, dass bei bestimmten Rechenprozessen schon kleinste Veränderungen (also beispielsweise bei einer Ziffer weit hinter dem Komma-Strich) links der Gleichung zu erheblichen, unerwarteten Ergebnissen rechts der Gleichung führen können. Diese Erkenntnis präsentierte er dann 1972 auf einer Tagung der Amerikanischen Gesellschaft für den Fortschritt in den Wissenschaften. Sein Vortrag erhielt den Titel (nicht von ihm selbst, sondern vom Konferenzleiter): „Vorhersagbarkeit: Führt der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien zu einem Tornado in Texas?“ („Predictability: does the flap of a butterfly‘s wing in Brazil set off a tornado in Texas?”)
Damit hatte die reichlich komplexe Chaostheorie wenigstens eine anschauliche Ikone, fast kann man sagen, ein Maskottchen. Optisch eindrucksvoll und ebenfalls im Kontext der Chaosforschung entstanden sind die berühmten Mandelbrot-Fraktale (benannt nach ihrem Entdecker, dem franko-amerikanischen Mathematiker Benoit Mandelbrot), die uns zeigen, dass nichts in der Natur glatt und einfach strukturiert ist. Sein Konzept von der „Rauheit der Dinge“ (eine schöne, fast schon literarische Bezeichnung für das Chaos) hat er selbst einmal so erläutert: „Wolken sind keine Kugeln, Berge keine Kegel, Küstenlinien keine Kreise. Die Rinde ist nicht glatt – und auch der Blitz bahnt sich seinen Weg nicht gerade.“
Inzwischen werden chaostheoretische Überlegungen auch bei der Stauforschung, in der Volkswirtschaftslehre und sogar in der Politikwissenschaft angestellt. Chaos wird verstanden als Verlust an Information, ja das ganze Universum strebe einem immer chaotischeren Zustand entgegen, Rückkehr zur Ordnung ausgeschlossen.
Ist das Chaos also überall? Der ebenfalls große Wegbereiter der Chaostheorie, Michell Feigenbaum, hatte dazu schon 1994 in einem Interview mit der ZEIT eine klare, ganz und gar geordnete Meinung. Er ging davon aus, dass auch chaotische Abläufe bestimmten Strukturen unterliegen und meinte deshalb, der Begriff „Chaos“ sei letztlich ein klug gewählter PR-Name. Denn dann, so Feigenbaums damalige Überzeugung, glaubten die Leute, die Chaosforschung sei etwas Interessantes.
Thomas Bimesdörfer